Sechster Tag

Am sechsten Tag war Kurhausball
Und Kinderfest - und überall -
Man mochte gehen oder stehen,
Tat man nur Festtagskleider sehen.
Kinder liefen mit Trompeten,
Mundharmonikas und Flöten,
Und ein Mann zum Kaufe bot
Luftballons blau, grün und rot.
Lene sprach: »Mein lieber Mann,
Sei so gut und hör' mich an!
Mir und Liesen hat von allen
Dingen nichts so gut gefallen,
Wie die Luftballons von dir,
Bitte schön, verkauf sie mir!«
»Ei, sehr gern! Doch sind es dreißig!«
Lene sagt: »Nur zu, das weiß ich!
Darum hab' mit viel Bedacht
Alles Geld ich mitgebracht,
Das noch in der Sparbüchs, drin
Hier zwei Taler, nimm sie hin!«
Freudig steckt der Mann sie ein:
»Nun sind alle Bälle dein.«
Mit den Luftballons versehn
Sieht man übermütig gehn
Zur Konditorei von Högel
Unsre beiden lockern Vögel.
Ihre Freude sie bekunden,
Als sie einen Platz gefunden,
Der bequem und passend schien.
Lene setzte drauf sich hin,
Während Liese heftig schellte
Und Schok'ladencreme bestellte.
Lene sah sich scheu jetzt um
Und bog eine Nadel krumm,
Die sie mit geschickter Hand
Dann befestigt an dem Band,
Das rotseiden, lang und munter,
Von den Bällen hing herunter.
An dem nächsten Tische saßen
Damen, die Pastetchen aßen.
Eine hatte einen Hund,
Schön gepflegt und kerngesund,
Der, weil er so sehr scharmant,
"Wunderfeinchen" war benannt.
Wunderfeinchen, zart und lieb,
War der reine Herzensdieb,
Konnte tanzen, hüpfen, springen,
Laut zum Leierkasten singen,
Kläffen - und vor allen Stücken
Menschen in die Beine zwicken!
Dies gefiel den Kindern sehr:
»Wunderfeinchen, ach, komm her!
I, du allerliebstes Tier,
Schau, dies Zuckerl schenk' ich dir!«
Riefen sie mit holdem Schmeicheln
Und versuchten, ihn zu streicheln.
Wunderfeinchen, der entzückt,
Daß man so von ihm berückt,
Trippelte mit stolzem Sinn
Zu der Lies' und Lene hin.
Hinterlistig steckt die Liese
In sein rotes Halsband diese
Krummgebogne Nadel fest,
Während ihres Cremes Rest
Len' in scheinbar sanftem Mut
Hin zum Schlecken halten tut.
Seine Herrin, ahnungslos,
Dankte, doch ein Windesstoß
Hat sie alsobald belehrt,
Daß hier Dankbarkeit verkehrt,
Denn es sausten - hui! - empor
Die Ballons. Und an ihr Ohr
Drang des Hundes Angstgeschrei,
Der an ihnen flog vorbei
Hoch in den Lüften wunderbar
Mit gesträubtem Schwanz und Haar.
Wunderfeinchens Herrin, ach!
Sah dem Liebling jammernd nach.
Starr und regungslos die Glieder,
Fiel sie schwer zu Boden nieder.
Seht, wie vieles in der Welt
Lies' und Lene angestellt!
Tut man so was aus Pläsier,
Wie die Len' und Liese hier,
Ei, dann wären, mein' ich, freilich
Rutenhiebe recht gedeihlich!
Aber denkt nun auch mit Bangen
An das Ende, ihr zwei Rangen!
Weiter mit dem siebenten Tag

Erstellt von Jochen Schöpflin
Zuletzt aktualisiert am Donnerstag, 18. August 2005