Erster Streich

Scharf und spitz, doch ohne Tadel
Ist - wenn man sie ehrt - die Nadel,
Die den Rock bald näht, bald flickt
Und auf Kissen Blumen stickt.
Ohne Nadeln geht es schwerlich;
Darum sind sie unentbehrlich.
Dieses sah man schon von je
Bei der Tante Dorothee, -
Die am Brustlatz nie genug
Nadeln aller Sorten trug,
Daß gespickt sie wie ein Has
Schlummernd oft im Lehnstuhl saß.
Maus und Molli, die das kannten,
Neckten gern die Anverwandten.
Als die Tante einst geruht,
Nahten sie mit Übermut.
Links und rechts gebeugt voll Schläue
Überfielen sie die Treue,
Die vom Kaffee sanft geträumt,
Wie er in der Tasse schäumt.
Zick und zack - mit spitzem Finger
Faßten sie die Nadeldinger.
Worauf jede, voll die Hand,
Von dem Schlummerstuhl verschwand.
Nah dabei am kühlen Orte
Lachte die Geburtstagstorte,
Wohl geformt aus Teig und Rahm,
Bis die Schar der Freunde kam.
Knupper, knapper - Molli, Maus
Fischten da die Früchte 'raus.
Und sie pflanzten ohne Pein
Hierfür Tantens Nadeln 'rein.
Auf dem Stab der Kakadu
Schaute stumm bedenklich zu.
Nachmittags erschien zum Schmaus
Mancher Gast vergnügt ins Haus.
Jedes rief schon an der Pforte:
»Ei Du Schlippchen! Welche Torte!«
Tante schnitt und hat verteilt.
Alle aßen unverweilt.
Plötzlich Base Guste da
Schrie mit blauem Kopfe: »Krah!«
Gleich drauf fauchte Onkel Krumm:
»Gräten hat das Zeug - hahum!«
Alle husten mit Gekeuch,
Tante sieht es schreckensbleich.
Doch der Doktor Emmerling,
Der zum Glück vorüberging,
Trat voll Ahnung schnell in's Haus
Und zog seine Zange 'raus.
Fünfundsiebzig spitze Nadeln
Aus den Hälsen, Schultern, Wadeln
Holte er der ganzen Schar,
Bis er endlich fertig war.
Aber Tante Dorothee
Schluchzte laut in den Kaffee.

Dieses war der erste Streich.
Doch der zweite folgt sogleich.

Weiter mit dem zweiten Streich

Erstellt von Jochen Schöpflin
Zuletzt aktualisiert am Freitag, 19. August 2005